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Anlieger und Autos first – Spaziergänger zuletzt

Ein sehr schmaler, unscheinbarer, teilweise geschotterter Weg zwischen der Bonhoefferstraße und dem Wasserwerk Buschletten in Ingolstadt – nicht mehr als ein Pfad durch die Felder, umsäumt von Bäumen, Wiesen und Stille. Doch genau hier zeigt sich, wie die Stadt Ingolstadt Naherholung nicht schützt, sondern aus Gründen verwaltungspraktischer Bequemlichkeit opfert – aus Scheu vor weiteren Auseinandersetzungen mit den Anliegern und dem damit verbundenen politischen Aufwand.

Am morgigen Dienstag entscheidet der Ausschuss für Stadtentwicklung, Bau, Umwelt und Nachhaltigkeit über eine Beschlussvorlage, die es in sich hat: 400 Meter des schmalen, vormals für Kraftfahrzeuge gesperrten Weges sollen für den sogenannten „Anliegerverkehr“ geöffnet werden. Was zunächst harmlos klingt, hat Sprengkraft – und folgt einem mittlerweile altbekannten Muster: Die Verwaltung knickt ein, der motorisierte Individualverkehr gewinnt. Und Fußgänger und Radfahrer? Die bleiben zurück – auf einem Weg, der für sie zunehmend unsicher wird.

Entscheidung gegen die Wirklichkeit

Die Stadt behauptet, der Weg sei kein Naherholungsgebiet. Eine Behauptung aus dem Repertoire der Verwaltungsrhetorik – die aber mit der Wirklichkeit kollidiert. Denn die Menschen suchen hier genau das: Erholung. Ob ausgeschildert oder nicht. Sie gehen, sie laufen, sie radeln. Sie begegnen einander. Dass die Verwaltung diesem hoch frequentierten Pfad nun jeglichen Erholungscharakter abspricht, wirkt wie eine bürokratische Realitätsverweigerung – und auf viele wie ein Affront.
Tatsächlich ist die Strecke längst Teil des kollektiven Erholungsraums. Bürger sprechen von einem „Ort der Ruhe“. Dass ausgerechnet jetzt die Verwaltung betont, es handle sich formal nicht um ein Erholungsgebiet, lässt sich nur schwer als pragmatische Sachentscheidung verkaufen. Eher wirkt es wie ein Versuch, Verantwortung rhetorisch abzuwehren.
Konflikte mit Autofahrern gibt es seit Jahren – dokumentiert, bekannt, ignoriert. Auch private Feiern auf einem der beiden Anliegergrundstücke haben regelmäßig für erhöhtes Verkehrsaufkommen gesorgt. Laut einer Dokumentation, die O-T(h)öne vor der ersten Berichterstattung zu dem Vorgang vorlag, wurde der Weg – trotz geltenden Durchfahrtsverbots – regelmäßig befahren. Teils mit erheblichem Tempo, zu Stoßzeiten mit bis zu 50 Fahrzeugbewegungen pro Tag. „Nach Ihren Berichterstattungen war es deutlich ruhiger“, schreib damals ein Anwohner. Das hat sich danach aber wieder deutlich r verschlechtert, wie eine aktuelle Aufstellung von Nacherholungssuchenden aufzeigt. Jetzt wird es künftig aber noch verkehrsreicher auf dem kleinen Weg.

Was früher Regelbruch war, wird nun Regel

Der Abschnitt, der nun wieder für Autos freigegeben werden soll, ist rund 400 Meter lang und führt direkt zu zwei privaten Anliegergrundstücken. Auf einem davon befindet sich ein Weiher, umgeben von nicht genehmigten Baukörpern, die von der Stadt über Jahre geduldet wurden. Berichte über dortige Festivitäten mit hohem Verkehrsaufkommen sind zahlreich dokumentiert – ebenso wie die regelmäßig zu beobachtenden Durchfahrten trotz bestehendem Fahrverbot. Bis zu 50 Fahrzeuge täglich im Sommer, darunter auch Fahrzeuge mit dem Kennzeichen IN-KB, also aus dem städtischen Fuhrpark.

Anliegerrecht statt Allgemeinwohl

Statt konsequenter Einzelfallregelungen oder baulicher Lösungen wie Sperrpfosten greift die Stadt zum einfachsten Mittel: einem neuen Schild. „Anlieger frei 400 Meter“ steht nun dort. Eine Einladung – offen für Lieferanten, Gäste, Handwerker, Besucher. Der Begriff „Anlieger“ ist rechtlich dehnbar. Kontrollierbar ist er kaum.
Schon zuvor parkten bei Festen bis zu zehn Fahrzeuge gleichzeitig auf der angrenzenden Wiese, berichten Spaziergänger. Der Kamin wurde im Winter angefeuert, Rauch stieg auf – und mit ihm die Frage, ob das mit geltendem Immissionsschutz vereinbar ist.
Das städtische Verkehrsmanagement nennt das eine „rechtssichere und praktikable Lösung“. Es ist auch: eine Kapitulation. Vor jenen, die das Auto als selbstverständliche Priorität begreifen – und sich wenig um das Umfeld scheren.

Risiko auf Raten

Die Stadt kündigt Kontrollen an. Wie schon früher. Damals war die Kontrollquote verschwindend gering – im Sommer etwa 13 Prozent, legt man die Aussagen der Stadt zur Kontrollhäufigkeit zu Grunde. Von wirksamer Überwachung also keine Spur.
Der Verweis, es handle sich offiziell nicht um ein Erholungsgebiet, ändert nichts an der Tatsache: Hier sind Menschen unterwegs, die genau das suchen – Ruhe, Natur, Platz. Die juristische Kategorisierung wird zur Nebelkerze. Die praktische Folge: mehr Verkehr, weniger Sicherheit.

Wachsweiche Floskeln statt Schutz

Auf eine Anfrage des Nachrichtenportals O-T(h)öne antwortete die Stadt mit einer Sammlung pflichtschuldiger Verwaltungsformulierungen: Man sei sich „der unterschiedlichen Interessenlagen bewusst“, wolle „eine praktikable Lösung“ und strebe ein „faires Miteinander aller Nutzerinnen und Nutzer“ an.

Das Problem dabei: Die „praktikable Lösung“ bedeutet faktisch eine Kapitulation. Die Verwaltung räumt ein, dass der Begriff „Anlieger“ juristisch schwammig ist – dazu zählen nicht nur Eigentümer, sondern auch deren Besucher, Handwerker, Mieter, Kunden. Eine effektive Kontrolle? Fehlanzeige. Die Polizei verweist auf die Stadt, die Stadt auf die Polizei. Wer sich beschwert, wird bestenfalls vertröstet.

Wenn Kritik mit Drohungen beantwortet wird

Dass das Thema emotional aufgeladen ist, zeigt sich nicht nur an der Wegkante, sondern auch in der digitalen Öffentlichkeit. Auf der Facebook-Seite des Nachrichtenportals O-T(h)öne entlud sich der Frust eines Anwohners in wütenden Kommentaren, in denen von „Schikane“ durch Medien und „Terminen mit dem Anwalt“ die Rede war. Der Nutzer trat anonym auf, beschimpfte die Redaktion und kündigte rechtliche Schritte an – ein digitales Aufbegehren gegen journalistische Berichterstattung.

Auch im realen Raum bleibt es nicht bei Worten. Ein wurde, während er sich Notizen auf dem Weg machte, von einem Autofahrer mit dem ausgestreckten Mittelfinger begrüßt. In einem anderen dokumentierten Fall nötigte ein Pkw-Fahrer einen Radfahrer, indem er dicht auffuhr und den Motor mehrmals aufheulen ließ. Anzeigen blieben aus – aus Angst vor Eskalation, wie Betroffene berichten.
Die Stadtverwaltung verweist darauf, Hinweise aus der Bevölkerung „grundsätzlich ernst“ zu nehmen. Gleichzeitig wird jedoch beklagt, dass sich Kritiker nicht direkt an die Ämter wenden. Wer jedoch sieht, dass selbst klare Hinweise folgenlos bleiben – oder mit Beleidigung quittiert werden –, der zieht sich zurück. Die Angst vor persönlicher Repressalie ist real. Auch deshalb aus dem Kreis der Naherholungsuchenden niemand zur Sitzung des örtlichen Bezirksausschusses erschienen.
Dass die Verantwortlichen diesen Teil der Realität ausblenden, zeigt, wie ungleich der Zugang zur Öffentlichkeit verteilt ist. Wer lautstark protestiert – wird gehört. Wer leise auf Missstände hinweist – bleibt oft allein.

Ingolstadt – Autostadt bleibt Autostadt

Dass ausgerechnet in Ingolstadt, dem Standort eines der größten deutschen Autobauer, das Auto wieder Vorrang erhält, überrascht wenig. Doch es offenbart ein strukturelles Ungleichgewicht. Wer zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs ist – also am wenigsten Platz beansprucht und am meisten Rücksicht benötigt – wird nicht geschützt. Sondern verdrängt.
Verantwortlich wäre gewesen, den Weg als Rückzugsort zu sichern. Stattdessen setzt die Stadt auf die Bequemlichkeit der Durchfahrt. Mit Verweis auf juristische Praktikabilität – und im Zweifel gegen die Interessen der Allgemeinheit.

Rückzugsort für Fußgänger – oder Schleichweg für Autos?

Dass hier eine schützenswerte Strecke für Fußgänger und Radfahrer zur Durchfahrt verkommt, ist kein Zufall, sondern Resultat verwaltungsinterner und wahrscheinlich auch politischer Prioritätensetzung. Ingolstadt ist eine Stadt der Autos – von Audi geprägt, infrastrukturell automobil, kulturell fahrzeugaffin. Fußgänger sind in dieser Logik Störfaktoren. Radfahrer Erziehungsobjekte.
Dabei gäbe es Alternativen wie Sperrpfosten und Ausnahmegenehmigungen. Doch all das sei „nicht verhältnismäßig“, heißt es von offizieller Seite. Die Verwaltung scheint lieber auf Einsicht derer zu hoffen, die sich seit Jahren nicht an Regeln halten.

Die Logik des Nachgebens

Wer heute durchsetzt, dass seine Gäste trotz Verbots bis zum Weiher durchfahren dürfen, wird morgen auch nicht stoppen, wenn das Verbot erneut gilt. Die Verwaltung selbst hat diesen Eindruck bestärkt – mit nachsichtiger Duldung, fehlender Konsequenz und der Weigerung, für klare Verhältnisse zu sorgen.
Zahlreiche Berichte, Recherchen und Leserhinweise zeigen: Viele Erholungssuchende fühlen sich längst nicht mehr sicher. Und dennoch wird der Weg geöffnet – ein paar neuen Schildern zum Trotz.

Symbolpolitik der Bequemlichkeit

Der Weg zwischen Wasserwerk und Bonhoefferstraße wird nun zum Symbol: dafür, wie Verwaltung und Politik handeln kann, wenn sie will – und wie sie sich drückt, wenn es unbequem wird. Die Entscheidung wirkt wie das Ergebnis eines Verwaltungsautomatismus. Der Satz aus der Stellungnahme der Stadt, man wolle ein „faires und konfliktfreies Miteinander aller Nutzerinnen und Nutzer“, bleibt reine Prosa. Hübsch formuliert, aber inhaltsleer.
Das Ergebnis ist eindeutig: Die Anlieger gewinnen. Und die Erholungssuchenden verlieren.
Die Stadt hat eine Gelegenheit verstreichen lassen – ein Zeichen zu setzen für nachhaltige Mobilität, für Sicherheit, für städtische Lebensqualität. Stattdessen legalisiert sie den Konflikt – und lässt die Schwächeren im Abgasnebel zurück.

Ob das das letzte Wort ist? Wohl kaum. Die Debatte wird weitergehen. In Ingolstadt. Und anderswo.

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