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Politische italienische Verhältnisse im künftigen Ingolstädter Stadtrat?

Politische italienische Verhältnisse im künftigen Ingolstädter Stadtrat?

(tt) Die "Frage der Woche" bei O-T(h)öne lautet:

„Es wird in der aktuellen heißen Wahlkampfphase versucht zu argumentieren, eine größere Anzahl von Parteien und politischen Gruppierungen im künftigen Ingolstädter Stadtrat würde zu italienischen Verhältnissen führen. Gemeint damit in eine fehlende politische Stabilität bei notwendigen Entscheidungen für unsere Stadt und die Bürgerschaft. Was spricht aus Ihrer Sicht für oder gegen diese Argumentation?“

Die CSU-Fraktionsvorsitzende im Ingolstädter Stadtrat, die Oberbürgermeisterkandidatin der GRÜNEN und die  Oberbürgermeisterkandidaten der SPD, der Bürgergemeinschaft (BGI), der FREIEN WÄHLER, der Unabhängigen Demokraten (UDI), der ÖDP, der FDP und  LINKEN wurden am 16. Februar um eine Antwort gebeten.

O-T(h)öne bedankt sich für die Beantwortung des Fragenkomplexes bei allen politischen Akteuren, die mitgewirkt haben.

Dr. Christian Scharpf, Oberbürgermeisterkandidat der SPD:

„Italienische Verhältnisse“ und Bayerische Gemeindeordnung. Meine Güte, da liegen Welten dazwischen. Der Stadtrat ist kein Parlament, sondern ein Hauptorgan der Verwaltung. „Regierung“ und „Opposition“ gibt es im Stadtrat nicht. Es ist in der Tat ein Trend, dass sowohl Parlamente als auch Stadträte politisch immer vielfältiger bunter werden. Das entscheidet der Wähler so und daran gibt es nichts zu kritisieren, denn so funktioniert nun einmal Demokratie.

Ich werde immer wieder gefragt: Ist es denn nicht ein Problem, wenn der OB nicht von der stärksten Fraktion gestellt wird? Nein, ist es nicht. Das ist in vielen Kommunal-„Parlamenten“ so. Ich strebe eine fraktionsübergreifende Zusammenarbeit im Stadtrat an. Es wird immer irgend eine Mehrheit geben. Die setzt sich aus den vom Volk gewählten Stadträten zusammen. Es mögen sich die besten Lösungen und Konzepte durchsetzen, egal von welcher Partei. Deshalb erschreckt mich ein politisch bunter Stadtrat auch nicht. Ich begreife ihn vielmehr als Chance."

Christian Lange, Oberbürgermeisterkandidat der Bürgergemeinschaft (BGI):

Ehrlich gesagt: Ich kann dieses Wort von der „Stabilität“ in diesem Zusammenhang nicht mehr hören. Nachdem es die CSU schon bis zum Erbrechen im Landtagswahlkampf ohne Erfolg genutzt hat, glauben nun die Ingolstädter Freien Wähler, vor einem zersplitterten Stadtrat warnen zu müssen.

Als ob es eine „stabile Demokratie“ bzw. eine „instabile Demokratie“ gibt. Aus meiner Sicht entspringt dieses Denken einer falschen Bewertung der Rolle eines Abgeordneten bzw. Gemeinde-/Stadtrats. Alle Volksvertreter müssen ihrem Gewissen folgen, nicht etwa einer mehrheitlich gefundenen Meinung in einer Fraktion. Die Realität sieht anders aus: es gibt ihn (vermutlich auch in Ingolstadt), den Fraktionszwang.

Daher ist die zunehmende Zersplitterung für mich eine große Chance für die Demokratie in den Parlamenten und Gemeinderäten. Denn je mehr einzelne Fraktionen es gibt, desto mehr muss eine Entscheidung direkt im Stadtrat oder Parlament getroffen werden und kann nicht zuvor in einer großen Fraktion hinter verschlossener Tür beschlossen werden. Durch die zunehmende Zahl an Fraktionen folgen wieder mehr Volksvertreter ihrem Gewissen und nicht nur der Mehrheitsentscheidung ihrer Fraktion. Das nun die Vertreter der ehemaligen Ingolstädter Rathauskoalition aus CSU und FW aufheulen, ist klar. Schließlich haben sie nun ihren Machtverlust vor Augen. Aber dieser Machtverlust findet zum Wohle unserer Stadt und der Menschen hier statt. Eine echte Chance für mehr Demokratie in Ingolstadt!

Hans Stachel, Oberbürgermeisterkandidat der FREIEN WÄHLER:

Die zunehmende Zersplitterung der politischen Landschaft wegen individueller Interessen ist eine bedenkliche Entwicklung. Um Entscheidungen herbeizuführen, braucht es stabile Mehrheitsverhältnisse, es sei denn, alle Beteiligten würden wirklich sachorientiert entscheiden und nicht ideologisch-politisch taktieren. In der Praxis ist aber meist letzteres der Fall.

Leider ist erkennbar, dass Entscheidungen immer schwerer zu treffen sind, häufig werden sie bis zur Unkenntlichkeit des Antrags geschliffen. Den Wählern geht dabei die Richtung und jegliche Orientierung verloren. Entscheidungsprozesse ziehen sich in die Länge, was dazu führt, dass die Entwicklung der Kommune oder auch des Landes gehemmt wird.
Bei Kommunalwahlen gibt es keine Sperrklausel. Das führt dazu, dass die Zahl der Parteien und Gruppen, die nur ein oder zwei Mandate erringen und keinen Fraktionsstatus erreichen, zunimmt. Das wiederum hat zur Folge, dass es schwieriger wird, die Ausschüsse zu besetzen, die Aufgaben zu verteilen und alle Gruppierungen angemessen zu beteiligen, was dann genau von den kleinen Gruppierungen beklagt wird, obwohl sie dieses „Schicksal“ selbst herbeigeführt haben. Die Mitglieder der Parteien, die in die Ausschüsse delegiert werden, sehen sich dann mit einer Aufgabenhäufung konfrontiert, die manchmal kaum noch zu bewältigen ist.

Nach der Kommunalwahl 2014 konnten folgende Parteien und Gruppierungen keine Fraktionsstärke erreichen: BGI, Linke, ÖDP, FDP, AfD, (GLI). Diese fortschreitende Zersplitterung der politischen Landschaft schwächt die Mitte der Parteienlandschaft und stärkt die Ränder. Genau das passiert gerade. Außerdem führt diese Zersplitterung dazu, dass die Mandatsträger und Sprecher der Kleinparteien und Gruppierungen unter einem starken Druck stehen, sich in der Öffentlichkeit zu profilieren. Die Folge sind Schaufensterreden und -anträge sowie überzogene und ungerechtfertigte Angriffe auf die politischen Gegner.

So lange wir in politischen Lagern denken (und viele Politiker, auch in Ingolstadt, denken nur so), werden wir die Herausforderung nicht meistern, die politischen Ränder wieder zu schwächen. Im Gegenteil, wir stärken sie. Dazu passt folgendes Zitat (von Benjamin Ilg im Online-Magazin f1rstlife): „Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag passierte etwas, das die Dynamik im Parteienbetrieb veränderte: Durch das Aufkommen einer sechsten Partei änderte sich der begrenzte zu einem extremen Pluralismus. Klingt kompliziert, aber gemeint ist einfach nur, dass die Parteien anfangen, sich nicht mehr am Zentrum der Gesellschaft zu orientieren, sondern an deren Rand. Politikwissenschaftler nennen das auch zentrifugalen Wettbewerb. Das zuvor stabile Parteiensystem wird volatiler und instabiler.“
Daher auch unser Engagement der FREIEN WÄHLER: für Sachpolitik und eine stabile Mitte.

Raimund Köstler, Oberbürgermeisterkandidat der ÖDP:

Wenn auf kommunaler Ebene ohne Fraktionszwang gearbeitet wird, ist die Anzahl der Parteien nicht entscheidend, da jeder einzelne Stadtrat nach seinem Gewissen agieren würde. Deshalb ist eine Prozent-Klausel bei der Kommunalwahl nicht notwendig und auch nicht demokratisch. Um das Beste für unsere Stadt zu erreichen, werde ich gerne mit allen Demokratie liebenden Stadträten zusammenarbeiten.

Bei einer Prozent-Klausel wären die Wählervoten nicht wie es gelegentlich heißt verloren. Nein, schlimmer noch, die Stimmabgaben kommen Parteien zugute, die die Wählerinnen und Wähler gerade nicht wählen wollen.

Der das Wahlrecht in der repräsentativen Demokratie prägende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien ist verfassungsrechtlich verankert im Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Dieser Grundsatz wird schwerwiegend beeinträchtigt, wenn eine Prozent-Hürde den Wählerwillen derart verfälscht.

Gerechtfertigt wird eine Prozent-Klausel als eine der »Lehren aus der Weimarer Republik«. Die Weimarer Republik ist nicht an den Splitterparteien gescheitert, sondern eher an den beiden größten Parteien und vor allem aber daran, dass es in Staat und Gesellschaft zu wenige Demokraten gab.

Anmerkung der Redaktion: Die Antworten wurden bewusst ungekürzt und redaktionell nicht bearbeitet in der Reihenfolge des Eingangs der Beantwortung veröffentlicht. O-T(h)öne erreicht immer wieder die Frage aus der Leseschaft, warum nur ein Teil der Antworten der angefragten politischen Akteure veröffentlicht wird. Die Antwort darauf lautet: Es kann nur veröffentlicht werden, was beantwortet wird und der Redaktion O-T(h)öne vorliegt.

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