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Von Thomas Thöne
Donnerstag, 22:45 Uhr in Ingolstadt: Der letzte Tagesordnungspunkt ist durch. Dr. Michael Kern, Oberbürgermeister mit Ausdauer, schließt die Stadtratssitzung. Die ehrenamtlichen Stadträte reiben sich die Augen. Fast 13 Stunden Debatte, ein paar kurze Pausen, über 40 Punkte, darunter zwei zur Konsolidierung der städtischen Finanzen, mit mehr Untergliederungen als ein bayerischer Gesetzesentwurf. Zusammen über 130 Entscheidungen zur Haushaltskonsolidierung, alleine bei diesen Unterpunkten. Manche nennen dies kommunalpolitisches Durchhaltevermögen. Andere nennen es: institutionalisierte Erschöpfung.
Gesetz? Gilt vielleicht auch bei der Stadt Ingolstadt
Ein normaler Arbeitstag hat acht Stunden. In der Arbeitswelt heißt das: Nach sechs Stunden Pause. Nach zehn Stunden Schluss. So will es das Arbeitszeitgesetz. Auch in Ingolstadt. Aber der Sitzungssaal folgt seiner eigenen Zeitlogik – und während das Arbeitszeitgesetz für ehrenamtliche Stadtratsmitglieder nicht gilt, ist es für die Mitarbeitenden der Stadt Ingolstadt sehr wohl verbindlich.
Wenn der Kopf auf Standby geht
Psychologen nennen es „Decision Fatigue“. Entscheidungsmüdigkeit. Klingt harmlos. Ist es aber nicht. Wer den ganzen Tag Entscheidungen trifft, hat am Abend keinen freien Willen mehr, sondern nur noch Routine. Studien aus Israel und England zeigen: Nach vielen Stunden denken Menschen nicht mehr, sie verwerfen, vertagen oder sagen Nein – Hauptsache keine Komplikationen mehr. Willkommen in Tagesordnungspunkt 37.
Pause hilft – aber auch nicht ewig
Microsoft hat’s gemessen: Menschen in Dauermeetings ohne Pause werden unaufmerksam, genervt, gestresst. Wer kurze Pausen macht, bleibt wach, offen, fähig zum Dialog. Wer durchzieht, hört irgendwann einfach nicht mehr richtig zu. Auch das dürfte Ingolstadts Stadtrat am eigenen Kopf erlebt haben – irgendwo zwischen Punkt 19 und 23.
Powernapping, Frischluft, Koffein? Bringt alles kurzfristig was. Aber nicht gegen einen Sitzungstag, der einem Langstreckenflug Konkurrenz macht. Am Ende bleibt: Konzentration ist ein endlicher Rohstoff. Wer ihn überschreitet, produziert Ausschuss – auch im demokratischen Sinne.
Politik mit leerem Akku
Eine besondere Verantwortung kommt dem Oberbürgermeister zu – er ist es, der grundsätzlich die Tagesordnungen erstellt. Wer so einen Sitzungsmarathon aufsetzt, trägt auch Mitverantwortung für die Erschöpfung im Saal.
Dass das in Ingolstadt nicht die Ausnahme ist, sondern fast schon Ritual, ist der eigentliche Skandal. Marathonsitzungen mit XXL-Tagesordnungen sind längst trauriger Standard. Mitten in der Woche, ehrenamtlich, ohne Rücksicht auf Biorhythmen oder Konzentrationskurven. Wer spätabends noch entscheidet, was Millionen kostet oder Personal betrifft, muss hellwach sein. Nicht leergegähnt. Wer’s trotzdem durchzieht, darf sich über Reizbarkeit, Polarisierung und politische Frustration nicht wundern. Es geht hier nicht um Bequemlichkeit – sondern um die Qualität von Entscheidungen.
Körper am Limit, Hirn auf Notstrom
Wer 13 Stunden Sitzung durchzieht, riskiert nicht nur Rückenschmerzen – sondern auch politische Irrtümer. Der Körper macht da keinen Unterschied zwischen städtischen Mitarbeitenden und eherenamtrlichen Stadtratsmitgliedern. Ab der achten Stunde wird die Konzentration brüchig, ab der zehnten schaltet der Kopf auf Sparflamme. Wissenschaftler vergleichen diesen Zustand mit 0,5 Promille im Blut – nicht gerade das ideale Niveau für Haushaltsentscheidungen oder Personalpolitik.
Und die Forschung ist eindeutig: Menschen, die müde sind, entscheiden anders. Weniger überlegt, weniger offen. dass kann als die Folge mitunter Millionen kosten.
Im Ernst: Wer will ab 21:47 Uhr noch wissen, wie viel für Radwege, Schulen oder Kultur gestrichen wird? Wenn sich der Sitzungssaal in ein demokratisches Halbdunkel verwandelt, wird aus politischer Verantwortung eine Frage der Restlaufzeit im Kopf. Und dann ist die entscheidende Frage oft nicht mehr: Was ist gut für die Stadt? Sondern: Kommen wir heute noch nach Hause?
Solche Sitzungen nicht nur grenzwertig
Aus medizinischer Sicht sind solche Sitzungen nicht nur grenzwertig, sondern potenziell gesundheitsgefährdend. Aus demokratischer Sicht: riskant. Denn was hilft das beste Ehrenamt, wenn es auf Verschleiß fährt? Gute Politik braucht wache Menschen, keine erschöpften. Wer Entscheidungen in die Nacht schiebt, provoziert Fehler, Frust und Ausstieg. Man muss nicht bis Mitternacht tagen, um engagiert zu sein. Aber man muss aufhören, wenn der Kopf nicht mehr kann.
Und nochmals: Für die Mitarbeiter der Stadt gelten verbindliche Regeln – Arbeitszeit, Ruhezeit, Gesundheitsschutz. Der Oberbürgermeister muss sie bei künftigen Sitzungsplänen mitbedenken.
Transparenzhinweis: Eigene Berichterstattung.
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