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In Ingolstadt ist Kurzarbeit keine Ausnahme mehr

In der Region Ingolstadt bleibt die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeit auch im Frühjahr 2025 hoch. Besonders betroffen ist das verarbeitende Gewerbe, das traditionell eng mit der Automobilindustrie und ihren Zulieferern verflochten ist.

Nach Angaben der Agentur für Arbeit Ingolstadt befanden sich im Mai insgesamt 642 Beschäftigte aus dem verarbeitenden Gewerbe in realisierter Kurzarbeit. 171 davon entfielen auf die Metall- und Elektroindustrie – eine Branche, die eng mit dem Standort Audi verbunden ist.

Wie viele der Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter direkt oder indirekt mit Audi in Verbindung stehen, lässt sich nicht sagen, teilt die Agentur für Arbeit Ingolstadt auf Anfrage des Nachrichtenportals O-T(h)öne mit. Eine entsprechende Auswertung sei nicht möglich. Doch die Branchenstruktur lässt vermuten, dass die Automobilwirtschaft weiterhin eine zentrale Rolle spielt.

Stadt und Land: Getrennte Belastung

Während in der Stadt überwiegend Industrieunternehmen Kurzarbeit umsetzen, zeigt sich im Umland ein anderes Bild: Dort melden auch Bauunternehmen, Einzelhandel und kleinere Dienstleister Kurzarbeit an. Die wirtschaftlichen Folgen ziehen sich durch nahezu alle Branchen – in unterschiedlicher Ausprägung.

Denn an einem Arbeitsplatz in der Automobilindustrie hängen nach Schätzungen bis zu sieben weitere – in Zulieferbetrieben, Logistik, Gastronomie oder Dienstleistungen. In Ingolstadt sagt man seit jeher: „Hat Audi Husten, hat die Region eine Lungenentzündung.“ Derzeit hat Audi mehr als Husten.

Großunternehmen greifen meist auf interne Sicherungsmodelle zurück. Kleine und mittlere Betriebe nutzen häufiger das offizielle Kurzarbeitsinstrument. Dabei kommt eine vollständige Freistellung nur selten vor. Üblicher sind Modelle mit 25 oder 50 Prozent Arbeitszeitreduktion – angepasst an Auftragslage und Betriebskapazität.

Audi und die Zulieferer

Bei Audi selbst gelten die Beschäftigten als vergleichsweise gut abgesichert – dank starker gewerkschaftlicher Mitbestimmung und eines langfristigen Tarifrahmens. Ein Zukunftstarifvertrag, abgeschlossen mit der IG Metall, sichert die Beschäftigung an den Standorten Ingolstadt und Neckarsulm bis mindestens 2033. Er umfasst umfangreiche Investitionen, tariflich abgesicherte Umqualifizierungen und strukturelle Zusagen für den Wandel zur Elektromobilität.

Neben stabilen Grundgehältern erhalten Tarifbeschäftigte bei Audi Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie weitere Sonderzahlungen. Dazu zählen Transformationsgelder, Ergebnisbeteiligungen, vermögenswirksame Leistungen und tariflich garantierte Zusatzleistungen. Diese Absicherungen schaffen ein Maß an Stabilität, das in der Industrie selten geworden ist.

Ganz anders stellt sich die Lage in vielen Zulieferbetrieben dar. Dort fehlen häufig vergleichbare tarifliche Vereinbarungen, betriebliche Mitbestimmung oder strategische Sicherungsinstrumente. Bereits in der Vergangenheit wurden Sonderzahlungen vielerorts reduziert oder abgeschafft. Während Audi-Mitarbeitende auf ein durch Mitbestimmung und Tarif geschütztes Gesamtpaket bauen können, ist für viele andere Kurzarbeit das einzige verbleibende Instrument zur Überbrückung.

Und genau diese weniger geschützten Beschäftigten trifft es nun sehr hart. Dort, wo keine langfristigen Vereinbarungen greifen, sind die Auswirkungen von Auftragsrückgängen und strukturellem Wandel besonders direkt spürbar – mit allen sozialen und wirtschaftlichen Folgen.

So entsteht ein Kontrast, der in der Region zunehmend sichtbar wird – und sich als Zweiklassengesellschaft im industriellen Alltag zeigt.

Auch der Arbeitsmarkt reagiert

Auch die Arbeitsmarktdaten folgen diesem Trend. In der Stadt Ingolstadt liegt die Arbeitslosenquote derzeit bei 4,4 Prozent, im gesamten Agenturbezirk bei 3,1 Prozent. Die Zahl neu gemeldeter Stellen ist im Vergleich zum Vorjahr um rund 17 Prozent gesunken. Auch Ausbildungsplätze – insbesondere in Industrie und Technik – werden seltener angeboten. Viele Unternehmen halten sich zurück. Die Perspektiven sind unklar.

Besonders auffällig ist die Entwicklung in Bayern insgesamt: Die Zahl der realisierten Kurzarbeitsfälle ist im Vergleich zum Vorjahr um rund 82 Prozent gestiegen. Das zeigt, wie stark der Druck auf industrielle Kernbranchen inzwischen geworden ist – speziell in Regionen mit hohem Anteil an Automobil- und Zulieferbetrieben.

Reaktion durch Qualifizierung

Um gegenzusteuern, setzen Politik und Arbeitsverwaltung auf Weiterbildung. Mit dem Qualifizierungschancengesetz können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fehlende Abschlüsse nachholen oder sich in digitalen Berufsfeldern weiterbilden. Die Programme „Transform Bayern“ und „Transform 10“ begleiten gezielt die Umstellung in der Automobilwirtschaft – auch bei kleinen und mittleren Unternehmen.

Doch wie gut diese Angebote wirken, hängt vom Betrieb ab. Große Unternehmen können strategisch planen. Kleinere Betriebe kämpfen oft mit Ressourcen und Alltag – und schaffen es nur selten, Beschäftigte parallel zur Krise fit für die Zukunft zu machen.

Ein Wandel mit Wucht

Kurzarbeit war ein Instrument für Ausnahmen. Nun ist sie Alltag – und ein Signal dafür, wie tief der Wandel in der Automobilindustrie reicht. Automatisierung, Digitalisierung und der Übergang zur Elektromobilität verändern nicht nur Produkte – sondern auch die Situation jener Beschäftigten, die von der Branche abhängig sind, aber nicht in einem tarifgebundenen Großbetrieb wie Audi arbeiten. Für viele von ihnen fehlt die Absicherung, die ein solcher Konzern bietet.

Datenbasis: Anfrage an die Agentur für Arbeit Ingolstadt (Mai 2025), interaktive Statistik der Bundesagentur für Arbeit, IAB‑Prognosen Frühjahr 2025, Weitere Quellen: IG Metall Bayern / Audi: Zukunftsvertrag, tarifliche Sonderleistungen, Programme Transform Bayern und Transform 10
Recherche: Redaktion O-T(h)öne, Mai–Juni 2025.

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