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Kein funktionierendes Rettungsdienst-System

Die Bundesrepublik Deutschland kommt ihrem Auftrag zur medizinischen Notfallversorgung ihrer Bürgerinnen und Bürger nur unzureichend nach und stellt kein flächendeckendes und mit gleichen Qualitätsstandards ausgestattetes, funktionierendes Rettungsdienst-System zur Verfügung. Dies ist das Ergebnis eines Gutachtens, das heute im Rahmen der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt wurde. Erstellt wurde das Gutachten durch den langjährigen früheren Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio; in Auftrag gegeben hat es die im baden-württembergischen Winnenden ansässige Björn Steiger Stiftung. Die gemeinnützige Stiftung wurde 1969 gegründet und setzt sich seither für die Verbesserung des Rettungswesens in Deutschland ein.

Das deutsche Rettungswesen befinde sich gegenwärtig in einer Systemkrise, urteilt der frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio in seinem Gutachten. So seien die Fallzahlen in der Notfallversorgung stark gestiegen, das Rettungswesen werde zunehmend für „einfache Erkrankungen“ in Anspruch genommen. Zudem ist die Hardware, insbesondere Fahrzeuge und ihre Ausstattung und die Software, einschließlich der Funktionsweise der Leitstellen, häufig unangemessen. Das gilt besonders für die Länge und Berechnung der Hilfsfristen. Zudem gibt es erhebliche Qualitätsunterschiede in der geografischen Fläche sowie zwischen Stadt und Land.

Es steht „außer Frage“, dass ein ausreichender Schutz der Bevölkerung nicht gewährleistet ist, wenn Notfallpatienten nicht schnell lebensrettende Hilfe erhalten oder wenn Kranke, Verletzte und andere Hilfsbedürftige nicht zügig unter fachgerechter Betreuung transportiert werden. Notwendig ist daher ein funktionierendes System des Rettungsdienstes, heißt es im Gutachten Di Fabios.

Als wesentlicher Grund für die bestehenden Defizite im Rettungsdienst gilt demnach die Aufsplitterung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern. Zwar verfüge der Bund über die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, für die Notfallrettung Qualitätsmaßstäbe vorzugeben. „Die bisherige Ausgestaltung der Notfallrettung durch die Länder mit der indirekten Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) erreicht aber allerorts und flächendeckend nicht das pflichtgebotene Ziel eines effektiven und gleichberechtigten Schutzes von Leben und Gesundheit der Bürger“, heißt es in dem Gutachten. Die erheblichen Kosten der Infrastruktur verleiteten einzelne Länder dazu, die Parameter des Rettungsdienstes so zu verändern, dass die von Länderseite haushaltspolitischen Budgets eingehalten werden können. Diese Parameterveränderung gehe zu Lasten der Qualität. „Die Qualitätsunterschiede verletzen den Anspruch insbesondere der GKV-Versicherten auf gleiche Leistung, wofür der Bund über seine Sozialversicherung eine Garantenstellung übernommen hat.“  

Tatsächlich aber sei der Bund dazu verpflichtet, einheitliche Regelungen für medizinische Leistungen in der Notfallrettung zu definieren. „Das grundrechtlich gebotene Ziel muss es sein, eine Notfallrettung zu organisieren, die bei lebensbedrohlichen Erkrankungen die Überlebenschancen des Patienten wahrt und nicht durch unzureichende Personal- und Sachressourcen, mangelhafte Organisation sowie durch zu lange Hilfsfristen verschlechtert. Alles andere kostet Menschenleben“, stellt der langjährige Bundesverfassungsrichter Fabio fest. Denn: „Die konkrete Hilfsfrist muss sich an der Korrelation von statistischer Überlebenswahrscheinlichkeit und Einsetzen der Notfallrettung ausrichten.“

Dabei verstehe sich die bisherige Zuordnung des Rettungsdienstes in den Kompetenzbereich der Länder nicht von selbst, schlussfolgert der Verfasser in seinem Gutachten. So habe der Bund u.a. die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Sozialversicherung und davon in erheblicher Breite und Tiefe Gebrauch gemacht. Aus seiner Entscheidung, die grundrechtliche Schutzpflicht auch durch eine hauptsächlich über GKV-Beiträge finanzierte Notfallrettung zu erfüllen, habe der Bund eine Garantenstellung für die Infrastruktur und die Qualität der Notfallrettung übernommen.

Stiftungspräsident Pierre-Enric Steiger sieht sich mit dem Gutachten in seiner Meinung über den Zustand des Rettungswesens in Deutschland bestätigt. „Seit Jahren bemängelt die Björn Steiger Stiftung, dass das Rettungswesen in Deutschland weit hinter den internationalen Standards zurückbleibt. Der Staat kommt hier seiner Schutzpflicht nicht nach, und es stellt sich die Frage, ob das Handeln der Länder noch verfassungskonform ist“, so Steiger. Daher habe die Stiftung nun das Rechtsgutachten über die Organisation des Rettungsdienstes in Auftrag gegeben. „Wir hoffen und fordern, dass die Politik daraus nun ihre Schlüsse zieht und entsprechend reagiert. Es bedarf eines kompletten politischen Umdenkens für den Rettungsdienst, um die Effizienz endlich auf international anerkannte Standards zu bringen“, betonte Steiger.

Die Björn Steiger Stiftung mahnt nicht nur seit Jahren das System an, sondern hatte bereits 2019 in einem Forderungspapier an die Politik entsprechende Lösungen der Umstrukturierung umfänglich aufgezeigt. „Bei aller Kritik am System ist der Björn Steiger Stiftung wichtig zu betonen, dass sich die Kritik ausschließlich an das System richtet und nicht an die im Rettungsdienst arbeitenden Helfer“, betont Pierre-Enric Steiger. Die im Rettungsdienst Arbeitenden seien „selbst Opfer und Benachteiligte dieses Systems“. Eine Umstellung des Systems müsse auch zu deren Entlastung führen.

Nach Ansicht des Stiftungs-Geschäftsführers Christof Chwojka darf die Qualität der Lebensrettung nicht von Zufällen abhängen, sondern muss unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten immer qualitätsgesicherten nationalen Standards und Vorgaben folgen. „International standardisierte Notruf-Abfragealgorithmen in den Leitstellen sind dabei genauso wichtig wie die flächendeckende, einheitliche Ersthelferalarmierung und eine lückenlose Telefonreanimation“, sagte Chwojka. Die Leitstellen und damit der Rettungsdienst müssten zu echten „Gatekeepern“ werden, die die Patienten zum „Best Point of Service“ lenkten. „Nur damit kann das Ziel erreicht werden, dass die Patienten bekommen, was sie wirklich brauchen – und nicht, was sie der Einfachheit halber gerne hätten“, so der Experte.

Das Rettungswesen ist enorm kostspielig. Die GKV – als gesetzlicher Kostenträger – hatten dafür 2022 einen Aufwand von 10,8 Mrd. Euro (ca. 90% des Gesamtaufwandes), die privaten Krankenversicherungen (PKV) trugen die restlichen 10% (ca. 1,2 Mrd. Euro). Noch 2018 lagen die Gesamtkosten bei knapp 4 Mrd. Euro. Die Kosten spiegeln teilweise die Systemmängel wider.

Quelle: Björn Steiger Stiftung

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