Anzeige

Ingolstadt knickt ein – auf 400 Metern

Von Thomas Thöne

Es ist eine jener lokalpolitischen Episoden, die man als Provinzposse abtun könnte – wenn sie nicht so exemplarisch wäre: Ein sehr schmaler Weg, deutlich länger als 400 Meter, irgendwo zwischen einem Wasserwerk und der Bonhoefferstraße in Ingolstadt. Ein Weg, der derzeit für Kraftfahrzeuge gesperrt ist – und es auch bleiben sollte. Doch ein stark frequentiertes Teilstück, etwa 400 Meter lang, wird nun wieder für Fahrzeuge freigegeben. Für „Anlieger“.

Was wie eine Formalie klingt, ist in Wahrheit ein Lehrstück – über den Zustand einer Stadt, in der Verwaltung und Politik inzwischen eher beschwichtigen als entschieden handeln. Die geplante Öffnung dieses Abschnitts steht nicht am Anfang einer Geschichte – sondern an deren resigniertem Ende. Denn was folgt auf einen noch gar nicht so alten Verwaltungsbeschluss zum kompletten Durchfahrverbot? In Ingolstadt anscheinend: Reaktionen auf Facebook, teils mit juristischem Tonfall, empörte Anrufe bei politischen Gremien, ein gewisser öffentlicher Druck – und schon scheint sich der Rechtsrahmen den lauteren Stimmen anzupassen. Hinzu kommt ein jahrelanges Übersehen oder Ignorieren einer zuvor falschen Beschilderung.

Dass auch dieses Teilstück des Weges schon immer ein Rückzugsort für Spaziergänger, Menschen mit Hund oder mit Gehstock gewesen ist, spielt in der aktuellen Diskussion offenbar keine nennenswerte Rolle. Die Stadtverwaltung erklärte in ihrer Stellungnahme, es handelt sich nicht um ein offiziell ausgewiesenes Naherholungsgebiet. Offenbar braucht Erholung in Ingolstadt ein eigenes Schild – andernfalls zählt sie nicht. Dass dort Tag für Tag Menschen Schutz vor dem Lärm der Stadt suchen, scheint zweitrangig – wenn sie es leise tun.

Und genau hier wird es politisch: Nicht wer Rücksicht nimmt, sondern wer lautstark Forderungen stellt, wird gehört. Wer lediglich auf Missstände hinweist, sieht sich mit Zuständigkeitsverweisen und bürokratischer Trägheit konfrontiert. Polizei? Nicht zuständig. Verkehrsamt? Überlastet. Mängelmelder? Ohne konkretes Ergebnis. Wer dagegen gezielt öffentlich Druck aufbaut oder anwaltliche Schritte ins Spiel bringt, scheint schneller Gehör zu finden.

Noch vor gar nicht so langer Zeit hatte dieselbe Stadtverwaltung eine Beschilderung geändert, um eine rechtlich korrekte Verkehrsregelung umzusetzen. Damals hieß es, für berechtigte Einzelfälle gebe es die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen zu beantragen. Nach Angaben der Stadt wurden zwei solche Genehmigungen erteilt. Dennoch formierte sich Widerstand – weniger gegen konkrete Einschränkungen als gegen das Prinzip, dass der Weg nicht frei befahrbar ist.

Die Verwaltung scheint daraus die Schlussfolgerung gezogen zu haben: Wo einzelne Akteure den Verwaltungsweg nicht beschreiten möchten, wird der Weg insgesamt geöffnet. Nicht mehr Ausnahmen regeln den Verkehr, sondern Ausnahmen werden zur Regel. Wer sein Auto an die Grundstücksgrenze steuert, darf das künftig offiziell – ohne klare Nachweispflicht, wer tatsächlich zur Gruppe der berechtigten Anlieger gehört. Denn was „Anlieger“ bedeutet, ist im Verkehrsrecht weit gefasst – dazu zählen auch Besucher, Kunden, Lieferanten.

Die Stadt betont, die Strecke werde weiterhin beobachtet. In der Praxis jedoch vergehen zwischen zwei Kontrollfahrten oft mehrere Tage. Bei einer Durchfahrtszeit von wenigen Minuten ist die Wahrscheinlichkeit, überhaupt auf ein kontrolliertes Fahrzeug zu treffen, äußerst gering. Die Beschilderung verliert so ihre steuernde Wirkung – sie ist vorhanden, aber weitgehend folgenlos. Wie die grüne Plastikplane, die auf einem Grundstück Sichtschutz bietet, ist sie mehr Symbol als Schutzmaßnahme.

Dass der Weg nur rund drei Meter breit ist, dass sich dort Fahrzeuge mit zu Fuß Gehenden begegnen, dass der vorgeschriebene Mindestabstand zu Radfahrenden nicht eingehalten werden kann – all das ist der Stadtverwaltung bekannt. Ebenso ist dokumentiert, dass sich auf einem der anliegenden Grundstücke ein Weiher und bauliche Strukturen befinden, deren Genehmigungslage nach Auskunft von Beobachtenden unklar ist. Diese Flächen werden offenbar regelmäßig von mehreren Personen mit Fahrzeugen aufgesucht. Gleichwohl lautet die Haltung der Verwaltung, man werde die Entwicklung beobachten.

Es geht bei alldem nicht nur um einen Weg. Es geht um ein Prinzip. Um eine Verwaltung, die Konflikten nicht begegnet, sondern sie umgeht. Die sich weniger auf öffentliche Interessen beruft als auf praktikable Regelungen für Einzelne. Und die im Zweifel lieber ein Schild austauscht, als bestehende Regeln konsequent durchzusetzen.

Was hier fehlt, ist nicht nur Konsequenz – sondern auch politischer Gestaltungswille. Die Möglichkeit, bauliche Maßnahmen wie Sperrpfosten einzusetzen, gepaart mit gezielten Ausnahmegenehmigungen. Die Option, durch klare Kommunikation und transparente Maßnahmen Vertrauen in Verwaltungshandeln zu stärken. Oder schlicht der Wille, geltendes Recht tatsächlich anzuwenden. Denn so absurd es klingt: Der Weg war rechtlich korrekt beschildert. Er hätte lediglich durchgesetzt werden müssen.

Wer heute auf dem Weg unterwegs ist, begegnet nicht nur Radfahrenden und Autos. Man begegnet auch einem Symbol für die Stadtverwaltung. Nicht physisch – sondern indirekt: in jedem nicht geahndeten Verstoß, in jedem Schlagloch, das bleibt, in jedem Kommentar, der mehr Wirkung zeigt als das Bedürfnis von Naherholungssuchenden.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich viele Anwohnende und Erholungssuchende inzwischen zurückziehen: Die Stadt wirkt intransparent, zögerlich und abwartend. Eine Verwaltung, die sich selbst als Zuschauerin ihrer eigenen Entscheidungen begreift. Nicht steuernd, sondern registrierend. Nicht lenkend, sondern beschwichtigend.

Die Entscheidung über 400 Meter zeigt beispielhaft, wie die Stadt Ingolstadt mit öffentlichem Raum umgeht – und wie leicht dieser aus Gründen vermeintlicher Praktikabilität aufgegeben wird. Nicht aus rechtlicher Notwendigkeit, sondern aus Konfliktscheu. Die Formel scheint zu lauten: Wenn es knirscht, weicht man lieber aus.

Dass dieser Abschnitt einst ein Ort der Erholung war, wird bald kaum noch jemand sagen. Er wird zu dem, was überall dort entsteht, wo man das Gemeinwohl dem Weg des geringsten Widerstands opfert: ein Raum der Resignation. Und ein Symbol dafür, dass Rücksicht keine Stärke mehr ist – sondern ein Hindernis.

Sie möchten zu dieser Veröffentlichung mit dem Nachrichtenportal O-T(h)öne in Kontakt treten?

Wir freuen uns über Ihre E-Mail.

Diesen Beitrag teilen