In der idyllischen Stadt Kleinprovincia, wo sich die Welt noch in der wohlig-vertrauten Behäbigkeit eines beschaulichen Alltags dreht, gibt es zwei selbst ernannte Titanen des Journalismus: Siggi Sorglos und Karl Kalauer, die Meister des Lokalteils der Kleinprovincia Gazette. Beide sind die erhabenen Wächter der lokalen Berichterstattung und die unantastbaren Verkünder der Wahrheit im lokalen Geschehen. Ein Qualitätsjournalismus, der das ganze Zeitungsabo wert ist und im Umkreis von 500 Kilometern seinesgleichen sucht. Doch wehe dem, der es wagt, die Lokalberichterstattung der Kleinprovincia Gazette zu kritisieren, oder gar die persönliche Haltung der Titanen zur Lokalpolitik, besonders in den verrauchten Ecken der regionalen Facebook-Foren.
Siggi Sorglos, der in seiner Redaktionsstube oft formuliert wie ein abgehobener Literaturpapst, erträgt es nicht, dass die „gemeinen Leute“ ihre ungefilterten Meinungen öffentlich machen. Er schüttelt den Kopf über die „primitiven“ Wortmeldungen in den Foren, die eher an die Baustelle als an das Gymnasium erinnern. „Eine sprachliche Katastrophe und völlig ungehobelt und daneben! Lauter Gschaftlhuber“, zischt er durch die Zähne, während er einen besonders derben Kommentar über den amtierenden Rathauschef liest. Für Siggi Sorglos sind derartige Kommentare ein Affront gegen seine journalistische Integrität und seine Diskussionskultur, die er wie ein goldenes Schild vor sich herträgt.
Mit Karl Kalauer, Siggis Sorglos Kompagnon, sind beide die Schwarmintelligenz ihrer großen lokalen Redaktion. Karl Kalauer, seines Zeichens Hobbypsychologe, geht noch einen Schritt weiter. Für ihn ist klar: Die Facebook-Nutzer, die ihre Meinungen in der Sprache des Arbeitermilieus kundtun, leiden unter dem Dunning-Kruger-Syndrom. „Sie sind zu inkompetent, um ihre eigene Inkompetenz zu erkennen!“, flüstert er mit einem süffisanten Lächeln, während er die Kommentare in Facebook-Foren mit der Akribie eines Wissenschaftlers seziert. Die gleiche Einschätzung hat Karl Kalauer auch von anderen Medienvertretern aus dem Onlinebereich von Kleinprovincia, die von ihm geringgeschätzt und verschmäht werden.
Karl Kalauer fühlt sich als der unfehlbare Diagnostiker, der die Dummheit in der Stadt entlarvt. Dass er dabei den Fakt ignoriert, dass diese vermeintlich „Unwissenden“ auch die zahlenden Abonnenten der Zeitung sind, die seinen Arbeitsplatz mitfinanzieren, geht in seiner überbordenden Verachtung und Respektlosigkeit völlig unter.
Was Karl Kalauer und Siggi Sorglos nicht sehen – oder vielleicht nicht sehen wollen – ist die Ironie, die sich durch ihren beruflichen journalistischen Alltag zieht. Während sie die Facebook-Foren und deren „ungebildete“ Nutzer verachten und in Berichterstattungen der Lächerlichkeit preisgeben, durchforsten sie genau diese Plattformen nach neuen Themen für ihre Artikel. Von den örtlichen Medienvertretern im Onlinebereich, die den beiden zuwider sind, übernehmen die Profis der Berichterstattung auch gerne einmal Themen für einen eigenen Artikel. Es ist eine merkwürdige Symbiose: Sie schöpfen ihre Inhalte aus den Meinungen derer, die sie öffentlich in der Kleinprovincia Gazette an den Pranger stellen. Eine Heuchelei, die erst einmal überboten werden muss. Interessanterweise ist die Lokalredaktion der Kleinprovincia Gazette selbst auf Facebook aktiv, um viele Klicks für Lokalberichterstattung zu generieren.
Die Diskrepanz zwischen der veröffentlichten Meinung der Kleinprovincia Gazette und der öffentlichen Meinung der Stadtbewohner ist oftmals eklatant. Karl Kalauer und Siggi Sorglos versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und zu formen, indem sie ihre eigene Sichtweise als die einzig gültige präsentieren. Das kommt besonders dann zum Ausdruck, wenn Stadtratsmitglieder nach einer Sitzung nicht zitiert werden, da deren Ausführungen nicht in das Weltbild der Redakteure passen. Gleiches gilt für Pressemitteilungen aus der Politik, die Karl Kalauer und Siggi Sorglos nicht genehm sind. Da werden dann Wortfetzen aus dem Zusammenhang gerissen und der Leserschaft zum Fraß hingeworfen.
Die Bürger von Kleinprovincia, die tagtäglich mit den echten Problemen konfrontiert sind, erkennen zunehmend den Gegensatz zwischen Veröffentlichung und tatsächlichem Geschehen. Einige von ihnen äußern weiterhin ihre Meinungen in den örtlichen Facebook-Foren – laut, deutlich und in ihrer eigenen, unverblümten Sprache.
In Kleinprovincia wird noch lange gelacht und diskutiert, und vielleicht, eines fernen Tages, werden auch Karl Kalauer und Siggi Sorglos in ihrem Elfenbeinturm aus Papier begreifen, dass Meinungsvielfalt, wenn auch nicht ganz so fein in lokalen Facebook-Foren formuliert, noch keine Verbreitung von Hass im Internet ist. Hass-Postings gehören selbstverständlich auch in Kleinprovincia angezeigt.
Lesen Sie hierzu auch:
Sie möchte zu dieser Veröffentlichung mit dem Nachrichtenportal O-T(h)öne in Kontakt treten?
Wir freuen uns über Ihre Email.