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Boykott wegen ungeliebter Berichterstattung?

In der Stadt Kleinprovincia, wo die Uhren noch langsamer ticken und der Alltag in behäbiger Idylle versinkt, hat eine neunköpfige Stadtratsfraktion eine ausufernde Diskussion über ein Online-Nachrichtenportal geführt. Ein Stadtratsmitglied, ehemaliger Redakteur und abgewählter Landtagsabgeordneter, ist mehr als empört wegen der „negativen“ Berichterstattung über seine Partei, seine Fraktion und den von ihm nach eigenen Angaben entdeckten derzeit noch amtierenden Oberbürgermeister. Der ehemalige Journalist findet offenbar die Idee der freien Presse nur so lange gut, wie sie ihm in den Kram passt. Ansonsten scheint dieser ein großer Anhänger des Verlautbarungsjournalismus im Hinblick auf seine politische Gemeinschaft zu sein. Seinem Ärger konnte der Stadtrat in der jüngsten Fraktionssitzung Luft machen.

Was folgte, war ein demokratisches Meisterstück, über das die Schilderungen allerdings weit auseinandergehen. Der Fraktionsvorsitzende gibt an, dass die Diskussion nicht abgeschlossen wurde und das Thema nochmals auf die Tagesordnung kommt, da es Stimmen wegen der Art der Berichterstattung gibt. Genügend Zeit dafür bleibt der Fraktion auf der anstehenden Klausur, da offensichtlich bei besagter Fraktion keine wichtigeren Themen für die Stadt Kleinprovincia anstehen.

Andere Erzählungen, die mittlerweile auch andere Fraktionen in Kleinprovincia erreichten und dort für kräftiges Gelächter sorgten, schildern, dass tatsächlich eine Abstimmung stattgefunden habe. Somit soll das Online-Nachrichtenportal künftig keine Pressemitteilungen besagter Fraktion mehr bekommen. Dies Beschluss sei gegen die Stimmen von drei Fraktionsmitgliedern gefallen, die offensichtlich erkannten, wie präsenil das Vorgehen, im Hinblick auf das hohe Gut der Pressefreiheit ist. Das wäre eine brillante Beschlussfassung, die sicherstellt, dass besagte Fraktion ihre politischen Ziele und Anträge in diesem Medium, mit einer Vielzahl von Seitenaufrufen und stetig zunehmender Leserschaft seit 1999, nicht mehr vertreten ist. Also ein echter Geniestreich im Sinne von Transparenz und Meinungsvielfalt! Wer braucht schon Öffentlichkeit, wenn man im dunklen Kämmerlein beschließen kann, dass die Bürger lieber dumm bleiben sollen?

Das in Kleinprovincia steuerpflichtige Online-Nachrichtenportal vernahm die verschiedenen Schilderungen aus der Fraktionssitzung mit einer Mischung aus Erstaunen und belustigter Fassungslosigkeit. Denn ausgerechnet die Partei, besagter Fraktion, ist immer stolz für Demokratie und Pressefreiheit eingetreten – sogar während der finsteren Zeiten des Nationalsozialismus – und heute nennt die Bundespartei sogar Blogger als wichtige Akteure in der digitalen Gesellschaft und setzt sich für Maßnahmen zur Sicherung deren Rechte ein, wie auf deren Internetseiten nachzulesen ist. In besagter Stadtratsfraktion in Kleinprovincia ist dies offensichtlich bisher nicht angekommen, sonst gäbe es nicht einmal eine derartige Diskussion.

Der Herausgeber des Online-Nachrichtenportals lädt einen Vertreter der Fraktion angesichts der höchst bedeutsamen Diskussion für das Universum, die Welt, die Stadt Kleinprovincia und die besagte Fraktion, auf eine Tasse Kaffee zum Thema Pressefreiheit ein. Natürlich würden weiterhin die Positionen dieser Fraktion veröffentlicht, auch bei einem fraktionellen Boykottbeschluss. Die Pressemitteilungen würden, wenn diese nicht mehr an die Redaktion gesendet würden, halt von der Internetseite der besagten Fraktion oder deren Social-Media-Kanälen heruntergeladen. Dies bedeute lediglich ein oder zwei Arbeitsschritte mehr. Denn die Bürger sollen weiterhin erfahren, was in so mancher kommunalpolitischen Seifenoper von Kleinprovincia wirklich vor sich geht. Dies im Sinne einer ausgewogenen Berichterstattung, damit sich die mündige Leserschaft weiterhin selbst einen Blick über das kommunalpolitische Geschehen machen kann.

Kleinprovincia: Ein Ort, an dem Transparenz als gefährliches Verbrechen und Ignoranz als höchste Tugend betrachtet wird. Während die Welt lacht, bleibt nur eine Frage: Was kommt als Nächstes? Vielleicht ein Verbot von Spiegeln, weil sie die hässliche Realität zeigen? In Kleinprovincia scheint wirklich alles möglich zu sein.

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